Ein Gespräch mit Holger Kehne von Plasma Studio über Digitalisierung und Pluralismus, Körperlichkeit als Resistenz und die Frage des Politischen der Architektur.
Holger Kehne, das Denken und Entwerfen von Plasma Studio kreist stark um das Verbinden von Räumen, Funktionen, tradierten Zonen in Architektur wie im Stadtraum sowie um Überlagerungen und Mehrdeutigkeiten. Inwieweit verstehst du dich im Kontext bzw. über die Reflexion heute prägender Entwicklungen wie eine zunehmend durch Medien beeinflusste Wahrnehmung, neue Technologien, Mobilität, Verschmelzung einstmals separat gedachter Lebenssphären?
Unsere Arbeit ist in Raumorganisation und Ästhetik von den soziokulturellen und technologischen Entwicklungen der letzten 20 Jahre geprägt. Dabei hat sich eine Verschiebung von anfänglich – Ende der 90er-Jahre – enthusiastischer Auslotung der neuen digitalen Mittel zu einer eher kritischen Haltung eingestellt. Man kann ja nicht leugnen, dass trotz der bahnbrechenden Veränderungen auch vieles per Definition gleich bleibt. So ist ein Bankett heute natürlich anders, die Leute haben ihr Smartphone auf dem Tisch liegen, das Essen ist regional und es gibt Vegetarisch, aber bei der Hardware, der Stellung von Tisch und Stühlen und damit der gesamten Event-prägenden sozialen Konfiguration gibt es eine überschaubare Reihe von stabilen Typologien. In der Hinsicht ist der heutige Pluralismus sehr positiv: ein Feld, wo erstmal grundsätzlich vieles geht und gleichzeitig eine Unzahl von Wegen und oft gegensätzlichen Haltungen miteinander konkurrieren. Aus diesem Gewebe von Strängen schält sich eine Dialektik heraus: zwischen denen, die Neues und Nichtgesehenes suchen und damit wohl der genannten immer höheren Komplexität Rechnung tragen wollen, und denen, die eher das Zeitlose, Archaische in den Vordergrund stellen. Obwohl auf den ersten Blick dem progressiven Lager zuzuordnen, war doch Plasma schon immer dialektisch aufgestellt: Wir haben die damals gegenläufigen Pole von digitalen Entwurfswerkzeugen und ökonomischer, auf vorhandene Werkstoffe und Konstruktionsmethoden basierender Bautätigkeit in einer planaren, gefalteten Materialsprache synthetisiert, welche Unschärfen und Übergänge artikuliert, aber dabei bewusst klare Kanten, Bezüge, Grenzen und Definitionen setzt.
Das Ergebnis eurer Herangehensweise sind eher Topografien als Gebäude im klassischen Sinne. Welche Rolle spielt das semantische ,Offenhalten‘ von Räumen gegenüber eindeutiger Definition, Orientierung? Würdest du dabei zwischen kulturellen Kontexten differenzieren – etwa zwischen einem autoritären System wie in China und Projekten in Südtirol, um zwei sehr unterschiedliche Regionen eurer Tätigkeit zu nennen?
Die Bandbreite zwischen losen Spielfeldern, ‚Landschaften‘, die vieles offenhalten, und Bestimmtheit bzw. Determinismus ist eine ganz grundlegende Quelle der Architektur und Kultur im Allgemeinen. Beides ist gleichermaßen notwendig und in der Lebenserfahrung präsent. Wenn man zurückblickt, entdeckt man die Tendenz einer Oszillation, eine recht enggesteckte Periode wird von einer leichteren, spielerischen abgelöst, die wiederum irgendwann in etwas Strenges läuft, wie etwa bei Renaissance, Barock, Klassizismus. Zwar sind wir durch den heutigen Pluralismus nicht mehr zeitlich auf eine bestimmte Ausrichtung angewiesen und könnten prinzipiell die gesamte Bandbreite ausspielen. Dies geschieht bislang noch sehr selten, weil im Wettbewerb jeder eine bestimmte Position bzw. ,Brand‘ vertritt und verteidigt. In Fernost und Europa zu arbeiten, macht das Ganze noch komplexer, denn es gibt sowohl Überschneidungen als auch stark kontrastierende soziokulturelle Faktoren und Anforderungen. Unser Projekt für die Xi’an Expo setzt sich ganz bewusst mit diesen Fragen auseinander, wir haben dort statt einer als urbanen Typ geforderten zentralen Achse ein dezentrales, verzweigtes Rautenmuster aus Wegen und Plätzen eingeführt, was angesichts der sehr stark hierarchisch geprägten Raumordnungen in China recht radikal war und womöglich versteckt unter dem Bild des Biomorphischen beim Bauherrn an- und durchkam.
Angesichts der Logiken medialer Dominanz, einschließlich all ihrer Unschärfen, Hypes und Halbwertzeiten etc.: Inwieweit kann physisch gebauter Raum in diesem Kontext dauerhaft orientierungs- bzw. identitätsstiftend sein? Und wäre das angesichts der beschleunigten multikontexturalen gesellschaftlichen Entwicklungen wünschenswert, abzulehnen oder gerade notwendig?
Obwohl wir als Kulturschaffende natürlich tendenziell die Zeichen der Zeit und solch immens prägende Entwicklungen wie die Medialisierung, Digitalisierung und Virtualisierung eines erheblichen Teils der menschlichen Erfahrung und Kommunikation in unsere Arbeit einbeziehen und reflektiert sehen möchten, komme ich mehr und mehr zum Schluss, die gebaute Umwelt und unseren Beitrag dazu als strikten Gegenpol hierzu auszuformulieren und zu bilden. Unsere Arbeit war schon immer von der Absicht getrieben, Körperlichkeit zu fordern und bewusst zu machen. Dieses sehe ich verstärkt als Resistenz zur fortschreitenden Berieselung durch virtuelle Information. Nicht bloß formal, sondern auch inhaltlich wirken physische, materielle Raumerfahrungen in ihrer Vielschichtigkeit immer subjektiv und damit individuell zugeschnitten auf die von jedem eigens angefragten Sinneserfahrungen. So wird vom Benutzer eine bewusste, aktive Reflexion eingefordert, er wird gleichzeitig in Raum und Zeit verortet.
Wie beurteilst du veränderte Planungsmethoden und -technologien und ihren möglichen Einfluss auf das Entwerfen selbst? Building Information Modeling etwa ist zunehmend zum Standard geworden – arbeitet ihr damit? Wo siehst du Vor-, wo Nachteile?
Das relationale Entwerfen, also Muster, Bezüge und Bandbreiten zu denken und auszudrücken, bildete von Anfang an latent die Grundlage für unsere Arbeit. Wir haben demnach sehr früh die sich entwickelnden digitalen Mittel in unserer Lehre und auch im Studio ausgelotet, aber auch durch den stetigen Realitätsabgleich durch die gebauten Projekte immer wieder die Erfahrung gemacht, dass diese bis auf Weiteres am besten punktuell und spezifisch eingesetzt werden, weil sie sonst schnell zum Selbstläufer, wenn nicht zur Zwangsjacke werden. Bis jetzt schafft ein parametrischer bzw. BIM-Planungsprozess die Übereinstimmung von Strukturen und Bezügen durch den Einsatz von Hierarchien. Ich liebe die Klarheit und Konsequenz, aber in der Architektur muss man an manchen Stellen etwas ganz neu denken bzw. auf den Kopf stellen. Dies ist leider schwierig; wenn das Modell einmal steht, kann man eine Unzahl von Specs und Details ändern, aber man möchte nicht grundsätzliche Parameter infrage stellen. Man gewinnt etwas hier und verliert etwas woanders. Im Ganzen geht es bloß scheinbar voran, die Produktivität steigt natürlich, das ist eine recht quantitative Entwicklung. Ich sehe den Einfluss auf die Baukultur momentan als eher überschaubar.
Inwieweit bist du, unabhängig von konkreten Planungen, in Forschung involviert? Welche Rolle spielt dabei Interdisziplinarität; mit welchen Disziplinen – theoretisch, praktisch, künstlerisch – kooperiert ihr oder tauscht ihr euch aus?
Plasma Studio war schon immer stark durch den Bezug zu Forschung und Lehre geprägt, ausgehend von unserer Lehrtätigkeit an der AA. Alle vier Partner sind an verschiedenen Hochschulen weiterhin akademisch involviert. Persönlich gilt mein Interesse, Hongkongs fortgeschrittenen Urbanismus mit seinen extremen Dichten und stetiger Entwicklung als quasi-metabolisches System zu studieren, um besser zu verstehen, wie durch Serialität und Systematik echte Komplexität mit dazugehöriger Flexibilität geschaffen werden kann. Daneben arbeite ich mit Kollegen daran, die am Institut vorhandenen Roboter und digitalen Fertigungsmöglichkeiten für den Einsatz im Bauwesen auszuloten. Des Weiteren nutze ich den interdisziplinären Austausch mit Ingenieuren, um aus Konstruktion und effizientem Materialeinsatz heraus neue Raumorganisationen und Ausdrücke zu entwickeln.
Die Hinterfragung, Aufhebung, Porosität von Grenzen ist ein eminent politisches Thema in einer Zeit, in der die Gegenüberstellung von Globalisierung und lokalen Kulturräumen bzw. Identitäten stark diskutiert wird und mit wachsenden Konflikten einhergeht. Inwieweit verstehst du dich als politischer Architekt?
Grundsätzlich sind in der Tat durch jegliche Art von Raumgestaltung für den Benutzer eine Reihe von Möglichkeiten gegeben oder ausgeschlossen. Wir haben als Architekten allerdings immer weniger Spielraum, Entscheidungen über primäre politische und soziale Konfigurationen zu treffen. Daher kommt den mittelbaren, indirekten Ausdrücken, wo Form zwar nicht deterministisch wirkt, aber doch eine Vielzahl von performativen – Funktion, Orientierung, Komfort, Erlebnis – und repräsentativen – Bezüge, Referenzen, Ausdruck – Aufgaben erfüllt, eine wichtige Rolle zu. Instagram, zusammen mit der gesamten gesellschaftlichen Medialisierung, hat eine Stärkung der bildhaften Kommunikation und die Wichtigkeit solch sekundärer Raummerkmale und Inhalte rasant gefördert. Man muss diese Entwicklung natürlich kritisch sehen, aber es ist schon auch spannend, wie heute im Zuge der Globalisierung eine Vielzahl von Assoziationen abgerufen werden können und die meisten auf diese Metaebenen relativ unabhängig vom Kulturkreis und anderen prägenden Faktoren ganz ähnlich reagieren. Diese Schnittmengen sind eine Qualität, die momentan leider viel infrage gestellt wird, während Menschen sich durch die Flucht ins Lokalspezifische voneinander abgrenzen. Das Gleiche gilt auf der physischen Ebene, hier muss der Tendenz zu Abschottung und Kontrolle durch offene poröse Strukturen entgegengewirkt werden. Dies kann man allerdings unter den Konstellationen, wie Projekte gesteuert werden, am besten durch Aufzeigen von kommerziellem Mehrwert erreichen. Ich glaube nach wie vor daran, dass gute Architektur in vielen Fällen diese vermeintlichen Widersprüche lösen kann.
Profil
Holger Kehne ist Mitbegründer des Architekturbüros Plasma Studio, das heute Niederlassungen in Hongkong, Beijing und Bozen in Südtirol betreibt. Plasma Studios forschungsbasierte Projekte reichen von Möbeln und Installationen bis hin zu städtebaulichen Planungen. Kehne hat an verschiedenen Hochschulen gelehrt, darunter die Architectural Association in London und die Xi'an University of Architecture and Technology, China. Er ist Adjunct Associate Professor an der University of Hong Kong.
www.plasmastudio.com