Ein Gespräch mit Michel Rojkind über Designstrategien, Gemeinschaftsproduktionen, mexikanischer Zwanglosigkeit und die Vorteile einer interkulturellen Perspektive
Michel Rojkind, mit Ihrem Mercado Roma und dem Chedraui Santa Fe Supermarkt haben Sie zwei Projekte im kommerziellen Sektor beziehungsweise im Einzelhandel für Mexico City entworfen. Beide Projekte vereinen charakteristische Eigenschaften: das Verkaufen mit einem Gefühl eines gemeinschaftlichen Treffpunkts. Hat sich das Konzept des Ver- und Einkaufens alltäglicher, notwendiger Produkte zu einer Art sozialem Erlebnis verändert?
Wir sprechen über zwei sehr verschiedene Projektarten. Mercado Roma ist kleiner und Teil einer stark gemeinschaftlichen, aufstrebenden kulinarischen Generation, die es gewohnt ist, viel miteinander zu interagieren. Sie haben ein besseres Gefühl für Kollaboration, sie arbeiten miteinander, sie nehmen mehr Teil. Chedraui andererseits ist ein stärker kommerziell ausgerichteter Supermarkt, der nun auch in diese Richtung tendiert oder zumindest bei unserem aktuellen Projekt in Santa Fe den Raum hat, gemeinschaftliche Aktivitäten stattfinden zu lassen. Erstmalig haben sie für Urban Gardening eine Anbaufläche auf dem Dach eingerichtet und bieten kollaborative Workshops für Kinder und Unternehmen an, die die Stadt wieder mit ihren Bauern und lokalen Produzenten verbinden. In beiden Fällen ist das Konzept des Ver- und Einkaufens erweitert um Erlebnisse, die in den Räumlichkeiten geschaffen werden können.
Was bedeutet dies für die Architektur? Wie viel Freiheit haben Sie als Architekt wenn Sie solch große kommerzielle Flächen gestalten?
Architektur muss um das bestmögliche Ergebnis angereichert sein. Aus diesem Grund haben wir einen eigenen Raum geschaffen, in dem wir Designstrategien entwickeln bevor wir das eigentliche Gebäude entwerfen. Das A.D.D. (Adaptive Diagnostic Design), wie wir es nennen, ist Grundlage für die Formgebung und hilft uns, über unseren ursprünglichen Arbeitshorizont hinaus zu gehen. Wir müssen alle Möglichkeiten verstehen – nicht nur die vom Kunden vorgegebenen, sondern das gebotene, volle Potenzial.
Ihre Projekte zeichnen sich durch ein sehr starkes, manchmal aber auch verspieltes Design aus. Wie gehen Sie beim Gestalten vor, was sind die wichtigsten Kriterien?
Das Design all unserer Projekte ist das Ergebnis umfassender Recherchen, die uns ein Verständnis für die wichtigen Bestandteile gibt. Dies ist der einzige Weg zu einem intelligenten Ergebnis, das aus den Bedürfnissen heraus entsteht – nicht nur programmatische Themen, sondern auch ökonomische und soziale Aspekte, die Verbundenheit mit der Umgebung, Infrastruktur, die Wünsche und Bedürfnisse des Kunden, was das Projekt zurückgeben kann usw. Wir haben beim Gestalten Spaß – das ist fundamental in unserem Büro und diese Verspieltheit spiegelt sich auch in unseren Projekten wieder.
In Ihrem renommierten Tori Tori Restaurant in Mexico City ist die netzartige Fassade auch ein wichtiger Bestandteil im Innenraum. Wie wichtig ist es Ihnen grundsätzlich die Kontrolle über die finale Anmutung des Innenraums zu behalten? Inwieweit sind Sie in das eigentliche Interior Design involviert, von Oberflächen bis Möbelstücken?
Wir arbeiten sehr kollaborativ und stellen die Teams immer so zusammen, dass wir den Anforderungen des Kunden ideal gerecht werden – das umfasst auch Soziologen, Ökonomen, Städteplaner, Grafikdesigner, Industriedesigner usw. Auf flexible und dynamische Art und Weise binden wir sehr große Teams ein, die das Endergebnis bereichern. Im Fall von Tori Tori beispielsweise hatten wir das Vergnügen, mit meinem sehr guten Freund und unglaublich begabten Interior Designer Hector Esrawe und dem Grafiker sowie Markenspezialisten Nacho Cadena zusammenzuarbeiten. Das Großartige am kollaborativen Arbeiten ist, dass die kreativen Grenzen zwischen Architektur, Industriedesign und Grafikdesign aufweichen. Hinzu kommt, dass das Projekt von den bestmöglichen Ideen angetrieben wird, die dann in unseren Büros in das Ergebnis umgesetzt werden.
Neben Ihrer Niederlassung in Mexiko sind Sie auch in den USA und Europa aktiv. Mexiko und Europa im Vergleich: Sehen Sie große Unterschiede bei Lifestyle und Wohnkonzepten? Wenn dem so ist, führen sie zu unterschiedlichen Erwartungen beim Design von Wohnräumen, Restaurants, Bars und Verkaufsflächen?
In der heutigen instabilen Zeit ist einer der besten Aspekte des Lebens in Mexiko, dass wir immer schon „in der Krise“ waren. Wir haben gelernt, wie wir auf gewisse Umstände reagieren müssen, um Chaos als Chance zu verstehen. Der bekannteste Unterschied ist, wie mexikanische Informalitäten den Formalitäten die besondere Würze geben. Die Straßen werden von informellen Lebensmittelmärkten eingenommen, es gibt mehr Freiraum für Improvisation und für Anpassbarkeit. Am Ende ist es jedoch projektabhängig, welche Unterschiede ausfindig gemacht werden können und als wertvolle Information das Design antreiben.
Wo sehen Sie in naher Zukunft die größten Herausforderungen für Architektur und Design? Inwieweit können Architekten und Designer mit internationalem Blickwinkel dazu beitragen, diese Herausforderungen zu bewältigen?
Je mehr wir unser Auge schulen, die Gesamtsituation zu betrachten, desto weniger werden wir wichtige Dinge außen vor lassen. Wir müssen Strategien entwickeln, um gestalten zu können. Wir müssen verstehen, wer die Key Player sind oder wer möglicherweise fehlt und wer ausfindig gemacht werden muss. Wir machen heute Dinge, die mehr als nur Gestalten sind. Ich denke auch, dass die Ergebnisse sehr stark davon profitieren, wenn Teammitglieder unterschiedliche Blickwinkel auf die Dinge haben, weil sie aus anderem Kontext und anderer Kultur kommen. Man bringt eine frische Sicht auf die Dinge mit.
Profil
Michel Rojkind und sein Büro Rojkind Arquitectors, ansässig in Mexico City, sind international bekannt für ungewöhnliche, ikonische und manchmal verspielte Designs auf allen Gebieten – von kulturellen Einrichtungen und Gebäuden des Hotel- und Gastgewerbes bis hin zu Büro-, Wohngebäuden und Stadtplanung. Ihr Ziel ist es, einmalige Erlebnisse zu gestalten, die über die reine Funktionalität hinausgehen, und die Feinheiten eines jeden Projekts auf einer tieferen Ebene miteinander zu verknüpfen.
www.rojkindarquitectos.com