Ein Gespräch mit Antonino Vultaggio, Senior Partner bei HPP Architekten, über zirkuläres Bauen, gewandelte Entwurfsprozesse und veränderte Ansprüche an die Gestaltung von Arbeitswelten.
Herr Vultaggio, aktuell will die Bundesregierung Planungsprozesse digitalisieren und deutlich beschleunigen, unter anderem mit dem jüngst online gestellten BIM-Portal. Wie verändern digitale Verfahren die Architektur?
Mit digitalen Methoden wie BIM werden viele Bereiche standardisiert, weil sonst die Komplexität heutiger Bauprozesse gar nicht mehr beherrschbar ist. Wenn man nach der BIM-Methode modellbasiert plant und Informationen bereichsübergreifend verankert, dann ist das Standardisieren ein wichtiger Prozess für mehr Effizienz. Außerdem macht es vieles möglich, was vorher nicht möglich war. In der Vergangenheit wurde im Zusammenhang mit digitalen Entwurfsprozessen viel über Aspekte wie Ästhetik und Form gesprochen. Darüber hinaus geht es jetzt auch darum, die Bauprozesse zu digitalisieren. Nachhaltiges Planen wie für unser Projekt „The Cradle“ ist erst mit der Digitalisierung möglich. Selbst mit CAD war das vorher nur mit einem Mehraufwand durchführbar.
Es gibt ja Vorbehalte gegenüber Methoden wie BIM und der damit verbundenen Standardisierung, dass sie zu einer Vereinheitlichung der Architektur und letztlich zu einer Verflachung der Baukultur führen.
Wenn ich das Thema so denke, dass ich für die Gestaltung von Architektur künftig aus einem großen Pool standardisierter Elemente auswähle, bleibt Innovation auf der Strecke. Anders gedacht ermöglichen uns aber gerade die digitalen Werkzeuge, Neues zu entwickeln. Wenn Aspekte wie Klimaneutralität oder Suffizienz systematisch und prozessual betrachtet werden können, werden innovative Architekturansätze ermöglicht. Dafür ist das Standardisieren der Prozesse sehr wichtig. Themen wie Treppengeländer oder Fassadenanschlüsse muss man ja nicht jedes Mal neu erfinden. Es ist ja schon aufwändig genug, die bestehenden Normen ständig zu aktualisieren. Wir dürfen Effizienz nicht mehr losgelöst von Effektivität denken. Sonst tappen wir in die gleiche Falle, in der wir gerade sind, weil wir bei den Lieferketten falsche Effizienzmaßstäbe gesetzt haben. Dann gibt es eine Störung und das System bricht zusammen. Bei der Digitalisierung müssen wir uns immer wieder die Frage stellen, was das Richtige für die Beschreitung dieser neuen Wege ist.
Ist es schwerer geworden, architektonische Qualität bei Bauherren durchzusetzen, auch vor dem Hintergrund von Kosteneffizienz etc.?
Die Betrachtung von Design befindet sich meiner Meinung nach im Wandel. Das digitale Bauen hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass immer komplexere Prozesse entstehen. Heute ist es notwendig, modularer und einfacher zu denken, um zeitgemäßen Anforderungen gerecht zu werden. Bei den derzeitigen Liefer- und Materialengpässen wird das Thema „Design follows availability“ auf einmal hochaktuell. Wenn zum Beispiel die für einen Neubau geplanten Aluminiumfenster gerade nicht im gewünschten Zeitrahmen verfügbar sind, müssen Alternativen gefunden werden, um den ganzen Bauprozess nicht ins Stocken geraten zu lassen. Auch hierbei spielen digitale Prozesse eine entscheidende Rolle, weil man mit ihnen innerhalb kürzester Zeit ausloten kann, wo welche Materialien wie verwendet werden können. Die Verfügbarkeit von Materialien wird letztlich auch zu einem neuen Verständnis von Ästhetik führen.
Könnte der Büroneubau „The Cradle“ im Düsseldorfer Medienhafen hierfür ein Beispiel sein? Was ist das Besondere?
Im Umfeld des Hafens mit seiner prägnanten Architektur war es für uns wichtig, ein Gebäude zu entwerfen, dass sich vom Kontext abhebt und dem neuartigen Cradle-to-Cradle Prinzip gestalterisch Ausdruck verleiht. Wir möchten zeigen, dass hier etwas Neues entsteht. Entscheidend sind die Prinzipien dahinter, die zu einem neuen Standard werden sollten. Das Besondere ist der ganzheitlich zirkuläre Ansatz über den reinen Materialkreislauf hinaus.
Die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung von Architekten stellt sich vor diesem Hintergrund neu. Wie lange ist das Konzept von Cradle-to-Cradle bei HPP gereift?
Die Frage nach dem Mehrwert von Lösungen in der Architektur hat uns schon immer interessiert. Ich persönlich habe schon in der Ausbildung gelernt, dass es beim Entwerfen um mehr als das bloße Zusammensetzen von Einzelelementen geht. Bei Cradle-to-Cradle haben wir aus diesem Mehr explizit einen Prozess gemacht, der es uns ermöglichen soll, aus unseren reflexartigen Lösungsansätzen herauszukommen. Hierfür ist es notwendig, wieder zu qualifizierten und zeitlich auskömmlichen Planungsprozessen zu gelangen. In den letzten Jahren haben wir uns ja fast reflexartig immer wieder auf unsere Erfahrungen bezogen, da immer weniger Zeit für Planung bleibt. Da ist die Gefahr der Betriebsblindheit groß. Mit dem Projekt „The Cradle“ möchten wir Fragen neu stellen und zeigen, wie es auch anders geht. Statt auf bewährte Lösungen zurückzugreifen haben wir etwas Neues probiert.
Wie wird sich das Arbeiten verändern, auch im Hinblick auf die Pandemie?
Im Hinblick auf die Arbeitsumgebung dürfen wir Effizienz nicht mehr losgelöst von Effektivität denken. Wenn ich Effizienzsteigerung im Office nur unter dem Aspekt der Flächenersparnis betrachte, ist das meiner Meinung nach eine Sackgasse. Wenn wir die Menschen wieder ins Büro zurückholen möchten, müssen wir uns um Effektivität kümmern. Das Büro muss zum Ort für Begegnung, Austausch und Inspiration werden, aber auch zu einem Ort für Identität und Emotionalität. Bei der Arbeit aus dem Homeoffice geht irgendwann die emotionale Bindung und die Identifikation mit dem Unternehmen verloren. Das totale Homeoffice ist vergleichbar mit dem Zellenbüro.
Was bedeutet das Nebeneinander von hybriden Arbeitsweisen für die künftige Bürogestaltung?
Die Erfahrungen aus der Pandemie setzen den Anspruch an das Büro, dort andere Orte zu generieren. Ich muss heute nicht mehr nach München fliegen, um dort eine Stunde lang einen Termin wahrzunehmen. Dafür benötige ich aber im Büro einen anderen Ort als meinen Schreibtisch, da der ergonomisch nicht für eine Produktpräsentation oder einen entspannten Austausch gestaltet ist. Unsere kabellose Arbeitswelt ermöglicht ja gerade die vielfältige Nutzung von Räumen. Büros sind häufig weiß gestrichen und sehr hell beleuchtet, was für eine Videokonferenz nicht unbedingt sinnvoll ist. Es gibt zwar mittlerweile schon eine Auswahl an digitalen Hintergrundbildern für Videocalls, aber bei vielen ist die Umgebung und das Licht eher suboptimal für die Außenwirkung. Außerdem werden akustische Maßnahmen für den Arbeitsplatz immer wichtiger.
Gibt es seit der Pandemie eine gestiegene Nachfrage nach Um- oder Neugestaltungen von Arbeitswelten?
Es gibt vielmehr ein Auf und Ab. Als die Corona-Pandemie als einigermaßen beherrschbar galt, kamen Themen wie die Veränderung von Arbeitsprozessen und -umgebungen erneut auf die Tagesordnung. Seit dem Krieg in der Ukraine beobachten wir teilweise wieder eine abwartende Haltung. Für viele institutionelle oder öffentliche Bauherren spielt das Thema Effizienz seit der Pandemie eine größere Rolle. Mit der Ergänzung von Tätigkeiten im Homeoffice wird zudem verstärkt über die effektive Nutzung von Büroflächen nachgedacht. Weiterhin beschäftigt viele Unternehmen auch die Frage, wie sie für den „War of Talents“ attraktiver werden.
Das Spannende an dieser Zeit ist ja, dass es so viele und zum Teil auch widersprüchliche Entwicklungen gibt. Wie beurteilt Ihr die Auswirkungen der immer komplexer werdenden Welt für die Architektur?
Ich bin grundsätzlich ein positiv denkender Mensch. Bedingt durch die Pandemie und den Krieg verändert sich Vieles und das erschwert uns als Gesellschaft den Alltag. Teilweise sind das schon gravierende Probleme. Ich sehe darin immer auch eine Chance. Denn Krisen sind immer Zeiten, in denen innovative Lösungen entstehen. Man ist dann gezwungen, Dinge anders zu denken und sich zu bewegen. Wir müssen uns politisch und gesellschaftlich mit der schwierigen Situation auseinandersetzen, um aus ihr herauszukommen. Ganz wichtig ist es dabei, auch unsere aktuell geltenden Normen weiterzuentwickeln, da sie an vielen Stellen notwendige Innovationen im Bausektor verhindern. Hier müssen wir ansetzen, wenn wir unsere gebaute Umwelt nachhaltig zum Besseren verändern möchten.
Profil
Antonino Vultaggio wurde 1972 in Offenbach geboren. Nach seinem Architekturstudium in Frankfurt am Main arbeitete er bei KSP Jürgen Engel Architekten, zunächst in der Bearbeitung von Wettbewerben, seit 2007 als stellvertretender Leiter Entwurf. 2010 kam er zu HPP, wo er die Leitung des Entwurfs übernahm. 2012 wurde er zum Projektpartner, 2018 zum Partner und 2021 als Senior Partner in den Gesellschafterkreis der HPP Architekten GmbH berufen. Er engagiert sich für Themen rund um die nachhaltige Transformation bei HPP und verantwortet dort u.a. das C2C-inspirierte Holzhybrid-Bürogebäude „The Cradle“ in Düsseldorf. HPP Architekten mit Hauptsitz in Düsseldorf unterhalten Standorte unter anderem in Amsterdam, Berlin, Istanbul, Peking und Shanghai.
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